Samstag, 2. Oktober 2010

Oben bleiben!

… unter die Erde kommen wir früh genug. 

Seit den Ausschreitungen zwischen den Demonstranten und der Polizei am Donnerstagabend scheint mittlerweile ganz Deutschland seinen Blick auf den Konflikt rund um das Stuttgarter Bahnprojekt zu richten. Befürworter und Gegner spalten seitdem Stuttgart in zwei Lager auf. Veränderungsscheu werfen die einen den anderen an den Kopf. 

Kein Ort, an dem diese Aufkleber nicht kleben!
© hdznrrd / flickr

Übrigens: So neu ist die Angst vor Veränderungen gar nicht. Bereits 1845 befürchteten Schwäbische Ärzte, dass bei der Zugfahrt der neuen Verbindung zwischen Cannstatt und Untertürkheim Menschen vermehrt einer Gehirnerkrankung erleiden könnten. In den 50er Jahren protestierten die Suttgarter gegen den Fernsehturm - mit Erfolg: Die Stadt musste damals das Projekt vorläufig abbrechen.
Es scheint so, als haben die Stuttgarter Talent im Demonstrieren. Aber warum machen sie denn wegen einem Buchstaben und einer zweistelligen Zahl so einen Aufstand? Was sind die Gründe für die Montagsdemonstrationen?

Da ich vor zwei Wochen direkt am Geschehen war und S21 nun schon seit ein paar Wochen verfolge, möchte ich einen kurzen Crashkurs geben, worum es eigentlich geht.

Wer den Stuttgarter Bahnhof besucht, wird beim Ausgang sofort mit einer Rauchwolke begrüßt.
Am Nordflügel des Stuttgarter Bahnhofes kommen die Bauarbeiter mit dem Abriss weit voran – trotz Krach durch Trillerpfeifen und Buhrufen. Der Bauzaun dient längst nicht mehr nur als Absperrung, um Passanten vor Bauschutt zu schützen. Er ist für die Bauarbeiter zum Sicherheitszaun gegen wütende Demonstranten geworden und für die Bürger zur Trauerwand, die mit Plüschtieren, Blumen und hunderte von Zetteln verziert ist. 

An kreativen Ideen mangelt es wirklich nicht!
© Thomas Trueten / flickr


Stuttgart 21 – das ist das momentan größte Infrastrukturprojekt in Europa. Stuttgart soll moderner und attraktiver werden. Dabei wird die größte Baustelle der Umbau des Hauptbahnhofes sein. Dieser hat schließlich schon ein beträchtliches Alter auf dem Buckel: Seit 1914 existiert das Gebäude so, wie man es kennt. Dies soll sich innerhalb von 10 Jahren ändern. Der Kopfbahnhof soll in den Untergrund verlegt werden und zu einem Durchgangsbahnhof werden. Damit der ICE schneller an sein Ziel kommt, soll auch die Strecke von Stuttgart nach Ulm ausgebaut werden.

Das klingt doch alles gut - aber was bringt die Leute nun auf die Straße? Die wichtigsten Streitpunkte werden im Folgenden aufgeführt. Die grün-braun unterlegten Argumente stammen von den Stuttgart 21 Gegnern, die weinroten Sätze sind Argumente der Stuttgart 21 Befürworter.

© Sugin Ong / flickr

1. Das Projekt wird immer teurer.
Anfangs hieß es, das Projekt wird 2,5 Milliarden Euro kosten. Dann ist es auf 4 Milliarden Euro geklettert, mittlerweile schwanken die Kosten zwischen 7 und 11 Milliarden Euro. Man ist jedoch immer noch nicht in der Lage, die Kosten genau zu bestimmen.Würde das Projekt aber nun durch die Proteste abgebrochen werden, so würden immer noch bereits in Verträge investierte 1,4 Milliarden verloren gehen.

2. Stuttgart 21 und der Nahverkehr
Das Großprojekt bringe nicht viel für den Nahverkehr, betonen Gegner. Mittlerweile ist bestätigt, dass die Reisenden zum Flughafen mit kürzeren Fahrzeiten rechnen dürfen.Ob die durchlaufenden Zuglinien aber so viel Vorteile gegenüber dem Kopfbahnhof bringen, bleibt ungeklärt.

3. Die Neubaustrecke nach Ulm.

Zwischen Stuttgart und Ulm soll eine neue Strecke gebaut werden, sodass ICE- Züge eine höhere Geschwindigkeit erreichen können, als sie es momentan noch tun. Die Zeit verkürzt sich von Stuttgart nach München tatsächlich - von 2:04 Stunden auf 1:42 Stunden. Ist diese Zeitersparnis aber die hohen Kosten wert?

4. Für das Bahnprojekt muss der Grundwasserspiegel unter dem Bahnhof und auch unter dem Schlosspark (einem großen Park direkt neben dem Bahnhof) herabgesenkt werden.
Das ist ein Eingriff in die Grundwasserströme. Gegner vermuten, dass die Mineralquellen gefährdet werden könnten. Befürworter versichern, dass man alles Erdenkliche tut, um die Mineralquellen zu schützen. Jedoch wird etwas vergessen: Wird das Grundwasser herabgesenkt, so drohen viele weitere Bäume im Park zu vertrocknen. 

Parkschützer beschützen die alten Bäume
© Robin Wood e.v. / flickr

5. Die Ökologische Seite
Für den Tiefenbahnhof ist mehr Platz von Nöten. So soll ein Teil des Schlossgartens, im Besitz von jahrhundertealten Bäumen, als Eingang für den Tiefenbahnhof umfunktioniert werden. 282 alte Bäume sollen dafür gefällt werden. Zwar ist die Bahn dazu verpflichtet, nach dem Bauprojekt 293 neue Bäume zu pflanzen – diese werden aber erst nach Jahrzehnten wieder so prächtig sein wie ihre gefällten Vorgänger. Die Befürworter hüllen um diesen herben Verlust einen Mantel des Schweigens. Vielmehr sprechen sie für die ökologische Seite einen anderen Aspekt an: Die attraktiveren Bahnverbindungen sollen bis zu 18 Mio. Autofahrer anlocken, um auf den Zug umzusteigen. Es ist fraglich, ob wirklich so viele Menschen zum Umsteigen bewogen werden, wie die Bahn behauptet.

6. Die Behinderungen der Bauarbeiten
Für mindestens ein Jahrzehnt werden viele Lastwagen durch die Stadt fahren und die Bürger durch Lärm, Abgase und Absperrungen belasten. Manche Gegner befürchten sogar, dass das Projekt noch deutlich länger andauern wird als bis 2019.

« Zieh mal fester! » Tauziehen unter Erwachsenen
© Chris Grodotzki / flickr
Erst letzten Donnerstag erst gab es wieder eine Demo. Und die Anzahl der Demonstranten erhöht sich laufend. Manchen Menschen, die unter der Menge mitlaufen, geht es aber sicherlich nicht mehr nur um das Projekt S21. Denn immer öfter stimmt die Meinung der Deutschen mit der Meinung ihrer Politiker nicht mehr überein. Repräsentative Demokratie reicht den Bürgern nicht mehr, sie möchten mehr in die politische Kultur eingebunden sein. Aber statt Volksbefragungen eine Chance zu geben, werden Demonstranten mit Wasserwerfern und Tränengas von der Baustelle ferngehalten...:/

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